Bundespflegekammer fordert Politik: Kein K.O. nach erster Runde

Erster PflegeTALK gut besucht: Positionen der BPK und der CSU zumindest bei der Pflegereform vereinbar

Gestern haben sich Dr. h.c. Franz Wagner von der BPK und Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek den Fragen der Pflegenden gestellt und den Auftakt im neuen Diskussionsformat der Bundespflegekammer (BPK) – zusammen mit dem Deutschen Pflegetag – gemacht. Einigkeit herrscht, dass die Pflegereform steuerfinanziert werden muss. Bei vielen anderen Themen ist der BPK der Gegenpart zu defensiv.

In der Diskussionsreihe Deutscher PflegeTALK, die gestern zum ersten Mal über den virtuellen Äther gegangen ist, fanden Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek und Dr. h.c. Franz Wagner, Präsidiumsmitglied der Bundespflegekammer, zumindest teilweise erstaunlich klare Worte. So gibt der Minister zu, dass er sich bewusst für sein erstes Gespräch im Amt die Vereinigung der Pflegenden ausgesucht hat, „weil ich auf meiner Agenda tatsächlich das Thema Pflege ganz oben sehe. Ich wollte damit ein Signal setzen, dass das Thema Pflege für mich eine hohe Bedeutung hat und hören, was für Schwerpunkte auf der Agenda der Vereinigung sind.“ Wagner hingegen hat das Gefühl, dass die Politik an vielen Stellen kapituliert. Er positioniert sich daher auch ganz klar zur Pflegekammer, während Holetschek nur sagt, dass er um die Wirren zwischen Kammer und Vereinigung wisse. „Wenn die Politik meint, das ist ein gutes Instrument, dann führe ich das ein. In NRW läuft das ja auch echt gut“, führt Wagner weiter aus. Er könne sich noch daran erinnern, dass Minister Laumann seinerzeit in Berlin noch skeptisch der Kammerbewegung gegenüberstand, jetzt aber absolut davon überzeugt ist.

Der Moderator Marc Raschke, Leiter der Unternehmenskommunikation am Klinikum Dortmund, provoziert den Minister gleich zu Beginn mit einem Vergleich. Er fragt Holetschek, was er glaubt, dass seine zwei Kinder, die zwei Freunde eingeladen haben, sagen würden, wenn er jedem ein Eis verspricht und anschließend mit nur einem Eis ankäme: „Können Sie sich vorstellen, warum Herr Spahn in der ersten Corona-Welle mit dem Bonus nur ein Eis für gerade einmal ein Viertel der Pflegekräfte hatte?“ Kritisch antwortet der Politiker: „Bei vielem, was gut gemeint ist, muss nicht unbedingt das Beste rauskommen. Ich glaube, wir wollten ein Zeichen setzen.“ Er versteht aber auch, dass viele enttäuscht waren, weil sie nicht gesehen und gewertet wurden. „Deshalb bin ich auch kein Freund der Boni. Wir müssen es schaffen, nachhaltig etwas zu verbessern. Es ist in diesen Tagen zu wenig, mit einem Bonus zu agieren.“

Die Bundespflegekammer fordert derzeit einen Branchentarifvertrag für die Langzeitpflege und ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro. In der Diskussion wird jedoch klar, dass Gehalt und Boni nicht das Einzige sind, was von den Pflegefachpersonen bemängelt wird. Die Arbeitsbedingungen per se müssen verbessert werden, es ist ein „Bündel von Themen und sicher schwinge auch Enttäuschung mit, weil wir es nicht geschafft haben, dass die politisch angestoßenen Dinge außen angekommen sind“, äußert sich Holetschek durchaus selbstkritisch. Er ist sich sicher: „Jede Krise hat eine Chance. Und ich bin felsenfest überzeugt, wenn wir jetzt keine Veränderung gemeinsam einleiten, dann werden wir es lange nicht mehr schaffen. Die Menschen werden sich aus der Pflege verabschieden und wir werden nicht genug Nachwuchskräfte nachziehen können.“ Er empfindet das deutsche Gesundheitssystem als „gar nicht so schlecht“, aber es müsse sich einiges tun. Zumindest da sind sich beide Seiten wieder einig.

Wir haben keinen Mangel an Pflegefachpersonen, wir haben einen Mangel an Pflegefachpersonen, die unter den jetzigen Bedingungen arbeiten wollen

Bezüglich der Pflegereform gehen die Interessen der Bundespflegekammer und dem Bayerischen Gesundheitsminister, der derzeit die Gesundheitsministerkonferenz leitet, nicht weit auseinander: „Wir brauchen einen Steuerzuschuss, weil es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist“, lässt Holetschek verlautbaren. Er plädiert sogar dafür, die Reform noch vor der Bundestagswahl umzusetzen. Wagner ist beim Zeitraum etwas verhaltener: „Vor der Wahl habe ich gesetzgebungstechnisch wenig Hoffnung. Ich glaube nicht, dass da noch was kommt, das hebt man sich auf für nach der Wahl.“ Dennoch will Wagner noch nicht den Kopf in den Sand stecken. „Wir brauchen eine bessere Personalausstattung. Das muss der erste Schritt sein und nicht in Scheibchen. Es fehlt die konkrete Zusage, wo wir in drei Jahren sein wollen und wie wir damit umgehen, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Das wäre vertrauensbildend.“ Das BPK-Präsidiumsmitglied hält Holetschek entgegen, dass es durchaus auch Studien wie die aus Bremen gebe, die zeigen, dass ehemalige Pflegefachpersonen durchaus willens wären, wieder in ihren erlernten Beruf zurückzukehren, wenn sich die Rahmenbedingungen und die Personalausstattung fundamental ändern würden. „Wir haben keinen Mangel an Pflegefachpersonen. Wir haben einen Mangel an Pflegefachpersonen, die unter den jetzigen Bedingungen arbeiten wollen.“

Auch die Pflegepersonaluntergrenzen sind Thema im PflegeTALK. Hier gehen die Meinungen dann langsam auseinander. Holetschek betont, dass er wahrnimmt, dass die Intention, die man mit den Untergrenzen erreichen wollte, mit der Realität auf Stationen nicht übereinstimmt. Wagner geht jedoch noch weiter und sagt, dass die Personaluntergrenzen „willkürlich angelegt“ sind. Er entgegnet, dass Gesundheitsminister Spahn das vorgelegte Personalbemessungssystem ablehnt und die Untergrenzen als besser geeignetes Instrument ansieht. Er weist auch in dieser Runde darauf hin, dass man die Stellen in der Pflege trotz Refinanzierung eben nicht füllen kann, denn „wir können uns alle keine Pflegefachpersonen backen“. Von daher seien die PPUG eben nicht besser. Wagner bemängelt auch die Nebeneffekte eines fehlendes Personalbemessungsverfahrens, die durch das Pflegebudget gefördert werden – und hat die Pflegefachkraft Jaennine Fasold auf seiner Seite. Denn mittlerweile werden Servicekräfte gekündigt und die Aufgaben müssen wieder von Pflegefachpersonen übernommen werden, weil nur diese refinanziert werden.

Das Moderatorenteam aus Marc Raschke und der Influencerin Jeannine Fasold, baut regelmäßig die Fragen der Teilnehmer ein. Insgesamt sind es jedoch zu viele, um in der kurzen Runde vollumfänglich beantwortet zu werden. Sowohl Holetschek als auch Wagner sichern jedoch zu, alle Fragen auch im Nachgang noch zu beantworten.

Pflege als Schicksalsfrage der Generationen

In der Diskussion um Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt es viele Facetten, die alle vor hohe Herausforderungen stellt. „Ich glaube, dass Pflege eine Schicksalsfrage der Generationen ist“, sagt Holetschek. Denn oft seien es die Frauen, die in der Pflege von Angehörigen eingebunden sind und im Beruf und der Familie viel leisten und dann aufgerieben werden. Er weiß, dass Arbeitszeitmodelle auf den Weg gebracht werden müssen, die dort Entlastung bringen. Und er spricht aus, was viele wissen, aber sich nicht sagen trauen: „Es kostet auch Geld.“ Denn das bedeute, dass man mehr Leute im System brauche. Wenn man es ernst meine, müsse darüber geredet werden, Pflegende steuerlich besserzustellen, über Zuschüsse zu bezahlbarem Wohnraum nachzudenken und auch über betriebliche Altersversorgung. Wagner hält dagegen, dass es „viele Reserven im System gibt, wo Geld falsch ausgegeben wird.“

Raschke bringt es auf den Punkt: „Für mich klingt es, als ob wir kein Erkenntnisproblem haben, sondern allein das Umsetzungsproblem.“ Er kitzelt aus Holetschek sein Notfallprogramm bis zur Wahl heraus: „Ich habe gefordert, dass wir die Pflegereform noch auf den Weg bringen.“ Ebenfalls sind für den Minister Ausbildung und Arbeitsbedingungen Themen, die jetzt noch geklärt werden müssen. „Was ich mir wirklich wünschen würde, ist ein sektorenübergreifendes Verhalten, dass wir ambulant und stationär zusammenführen. Hier braucht es einen fundamentalen Durchritt: Wenn wir jetzt nicht an die Wurzeln dieser Frage herangehen, dann werden wir eine Chance vertun und wir werden viel Frust von denen kriegen, die dann sagen, jetzt reicht es uns wirklich.“

Wagner prangert Datenlage in der Pflege an

Die immer wieder in der Presse kursierenden 9.000 Pflegenden, die 2020 dem Beruf den Rücken gekehrt haben, sind eben nur die Zahlen aus einem Quartal, klärt Wagner auf. Das habe das Statistische Bundesamt aber selbst schon eingeräumt, dass es sich über das ganze Jahr verteilt, anders darstellt. „Aber auch die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind kritisch zu hinterfragen, es gibt nur Vollzeit und Teilzeit; und Teilzeit ist alles, was nicht Vollzeit ist. Das können fünf Stunden sein, aber auch 35.“ Die dort ausgewiesenen 18.500 Stellen mehr in der Pflege seien nur Köpfe und wenn man diese differenzieren würde, könnte es sogar sein, dass im Endeffekt sogar weniger Vollzeitkräfte da sind als in den Jahren davor. „Unsere Statistiken sind so schlecht, wir wissen es schlichtweg einfach nicht.“

Das Fazit der ersten Talkrunde ist, dass die Räder, die gedreht werden müssen, extrem groß sind. Es bleibt abzuwarten, ob man die Themenfelder nach der Wahl in der Komplexität lösen kann. Dennoch: „Ich denke, die Probleme sind jetzt so zugespitzt, dass ich Hoffnung habe, dass in der neuen Bundesregierung erkannt wird, dass sich fundamental etwas verändern muss“, erklärt Wagner, der in der Krise durchaus eine Chance sieht – wie Holetschek. Ein versöhnliches Schlusswort findet Fasold: „Ich finde, dass die Pflege trotzdem ein megaschöner Beruf ist und wir die positiven Seiten des Berufs nicht vergessen dürfen. Jeder ist auch ein Stück weit selbst mit verantwortlich, das System mit zu verändern.“

 

 

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